Tuesday 30 September 2014

Kicker, Issue 77, 18 September 2014

Zwei Tage lang haben Europas Nationaltrainer auf Einladung der FIFA und UEFA in St Petersburg die WM aufgearbeitet, die Gründe für den deutschen Triumph analysiert und die Auswirkungen auf den Weltfußball erörtert. Im Mittelpunkt des Geschehens Joachim Löw (54), der Weltmeister-Trainer. Am Rande des Kongresses traf sich der Bundestrainer mit dem kicker zum Interview.

Glaubt man der soeben veröffentlichten technischen Studie der FIFA, waren Neuer, Schweinsteiger, Klose, Müller, Lahm und Kroos die Schlüsselspieler zum WM-Titel. Haben die Experten recht, Herr Löw?

Nein, haben sie nicht. Denn eines hat diese WM klar gezeigt: Obwohl es immer Ausnahmespieler gibt, ist heutzutage ein Team das Allerwichtigste, um bestehen zu können. Wir sind bei der WM als eine Einheit aufgetreten, das war der Schlüssel zum Erfolg.

Der einzige?

Viele Komponenten spielten eine Rolle. Zum Beispiel: Deutschland und Argentinien haben die allerwenigsten Fouls begangen. Gleichzeitig haben Argentinien und wir die meisten Tore erzielt nach Ballgewinnen und schnellem Umschalten. Die Defensive war also jeweils bereits Initiator der ersten Offensivaktion. Und wir haben vermieden, durch Standards Gegentore zu kassieren. Inch betone ja schon lange, wie wichtig das richtige Zweikampfverhalten ohne Fouls ist. Da waren wir in Brasilien ganz vorn.

Welche Erkenntnisse hat die WM-Aufarbeitung in St Petersburg für Sie sonst noch gebracht?

Es gab viele Zahlen, Statistiken und Videosequenzen, und die Ergebnisse decken sich vielfach mit unserer eigenen Analyse. Es gab in Brasilien eine unglaublich hohe Spielintensität, das war noch einmal eine enorme Steigerung im Vergleich zur WM in Südafrika. Das hatte ich, und das hatten viele meiner Kollegen, so nicht erwartet angesichts der Bedingungen, Temperaturen, Reisestrapazen und ungewohnten Anstoßzeiten.

Geht daraus ein neuer Impuls für den Weltfußball hervor?

Das muss man abwarten. Die Spieler sind zwar noch einmal physisch stärker und schneller geworden in den vergangenen vier Jahren. Jetzt muss man aber erst einmal auch dahin kommen, dass auf allen Positionen die Anpassung der technischen Möglichkeiten im gleichen Maß erfolgt. Was allerdings auffällig war: Anders als vor vier Jahren haben alle Mannschaften versucht, schon in der gegnerischen Hälfte Druck zu machne und bedingungslos nach vorn zu spielen. Es sind mehr Tore gefallen als in Südafrika, vor allem sind mehr Tore innerhalb des Strafraums erzielt worden, nämlich 152 von insgesamt 171 Treffern. Das ist schon ein Trend. Und viele Tore wurden erzielt von offensiven Spielertypen, wie man sie so in den vergangenen Jahren nicht gekannt hat: Müller, Rodriguez, Schürrle, Götze, Neymar. Die Stürmertypen haben sich verändert.

Inwiefern waren die deutschen WM-Auftritte richtungsweisend?

Ich bin vielfach nach dem Weltmeister-Rezept gefragt worden, aber das lässt sich natürlich nicht so einfach beantworten. In einem Punkt waren wir allerdings klarer Vorreiter: Wir hatten mit dem Torhüter einen elften Feldspieler. Ich glaube, dass da Manuel Neuer für einen Wandel im Weltfußball sorgt. Er rettet ja nicht nur weit außerhalb vom Strafraum in höchster Not. Wichtiger ist: Er ist hinten sozusagen der Erste, der das Spiel eröffnet und die anderen dirigiert. Das ist die Zukunft im Fußball. Ich habe jetzt auch schon in den ersten Bundesligaspielen gesehen, dass die Torhüter viel höher stehen, als das vorher der Fall war.

Sir Alex Ferguson hat Sie gefragt, welchen Anteil die Winterpause am Titel hatte. Was haben Sie geantwortet?

Dass das schon ein kleiner Vorteil fürs Turnier gewesen sein kann, dass die Winterpause wichtig und bedeutend ist. Den wenigstens in dieser Zeit können die Spieler mal zurückschalten und regenerieren. Das ist in England anders. Entsprechend hoch belastet waren die Spieler aus der Premier League. Per Mertesacker mussten wir zu Beginn der WM-Vorbereitung separat trainieren lassen, weil er mit 60 Spielen schon am Limit war.

Toni Kroos wechselte nach der WM zu Real Madrid. Setzt er sich bei den Königlichen durch?

Ja, auf jeden Fall. Toni Kroos ist seit der EM 2012 zu einer Persönlichkeit geworden, von einem jungen, talentierten Spieler zum Mann, zum Stammspieler und absoluten Leistungsträger. Er ist von seinem Denken und seinem Verhalten inzwischen sehr professionell und reif, strahlt dies auch auf dem Platz aus. Ich habe seiten einen Spieler erlebt mit solch einem Nervenkostüm. Er kennt eigentlich gar keine Nervosität im negativen Sinn, sondern nur positive Anspannung. Dazu verfügt er über eine überragende Technik und große Spielintelligenz. Ihn kann man von heute auf morgen in jede Mannschaft stellen.

Gegenbeispiel: Lukas Podolski kommt kaum noch zu Einsatzzeiten. Steckt er sportlich in der Sackgasse?

Ich weiß nicht in Einzelnen, was Arsene Wenger aktuell mit ihm plant: Aber für Lukas ist es schon wichtig, die uneingeschränkte Unterstützung und das Vertrauen zu spüren. Ich hoffe, dass er bei Arsenal die Rolle spielen wird wie in der vergangenen Saison.

Wird's sonst auch ein Problem für die Nationalmannschaft?

Lukas weiß sich in den entscheidenden Momenten immer wieder zu steigern, und er gibt immer alles für die Nationalmannschaft. Die Energie, die er auch auf den Trainingsplatz mitbringt, ist enorm. Und grundsätzlich hat er ein Potenzial wie wenig andere Spieler. Ich weiß, es gibt Situationen, in denen Lukas für uns sehr wertvoll ist.

Haben Sie sich mal mit Ihrem spanischen Kollegen Vicente del Bosque ausgetauscht, wie er 2010 das erste Jahr nach dem WM-Titelgewinn gemeistert hat?

Mit ihm habe ich nicht gesprochen, aber mit Frankreichs Nationalcoach Didier Deschamps. Er ist ja 1998 als Kapitän Weltmeister geworden und hat bestätigt, dass das Jahr nach der WM für einen Spieler extrem schwierig ist. Er benötigte damals sechs Monate, bis er wieder einigermaßen in die Nähe seiner Form kam.

Was schließen Sie daraus?

Es war ja schon nach den Turnieren 2006 und 2010 meine Erfahrung, dass wir danach viele angeschlagene und müde Spieler hatten, die auch emotional zu kämpfen hatten in den Monaten nach einer WM. Deshalb ist für mich völlig klar. Die Monate bis zum Jahresende werden unglaublich schwer för uns. Wir müssen erst einmal wieder einen Schritt zurückgehen, unds stabilisieren und schauen, dass wir möglichst viele Spieler haben, die in einer körperlich guten Verfassung sind und sich nicht ständig mit Verletzungen rumschlagen.

Schweinsteiger, Khedira, Hummels haben noch nicht spielen können, auch Özil kommt nicht in Tritt. Ist das ein Beleg, dass die Spieler bei der WM nicht nur an, sondern möglicherweise auch über die Grenzen gegangen sind?

Aber das war auch 2010 schon so, auch da hatten die Spieler den Stress, waren acht Wochen zusammen, hatten die Reisen und körperlichen Belastungen. Die Spieler waren absolut am Limit, das hat man beim Turnier gespürt, und das spürte man in den Wochen danach.

Bayern Münchens Präsident Karl Hopfner sagte im Kicker-Interview, die Vereine und vor allem der FC Bayern bezahlen die Zeche für herrliche und erfolgreiche WM. Können Sie diese Sichtweise nachvollziehen?

Diese Argument ist nicht völlig unberechtigt, ich habe da absolut Verständnis für die Perspektive der Vereine. Darauf werde ich nach Möglichkeit auch immer wieder Rücksicht nehmen. Wer viele Nationalspieler hat, der hat automatische eine zweigeteilte Saisonvorbereitung und sich auf Schwierigkeiten einzustellen. Auf der anderen Seite profitieren die Vereine und gerade der FC Bayern auch wirtschaftlich von der WM. Denn die Weltmeister haben noch einmal einen ganz anderen Marktwert durch den Titelgewinn bekommen. Und sie kehren natürlich mit breiter Brust zurück.

Sind Sie angesichts der Personalprobleme froh, dass in der EM-Qualifikiation sich sogar der Gruppendritte qualifizieren kann und somit weniger Druck da ist als früher?

Klar erleichtert das die ganze Situation, ein wenig. Aber unser Anspruch ist trotzdem, die Gruppe gewinnen, und bislang haben wir es ja auch immer geschafft, vorneweg zu marschieren. Aber die wirklich schweren Spiele kommen jetzt im Oktober in Polen und gegen Irland.

Gleichzeitig muss die U21 in die Play-offs gegen die Ukraine für die EM 2015. Werden Sie Youngster wie Draxler, Ginter oder Rüdiger abstellen?

Ich denke, diese Spieler werden bei uns sein. Draxler ist schon länger bei der Nationalmannschaft, Ginter auch seit der WM. Rüdiger kann jetzt neu dazu, bei ihm sehe ich großes Potenzial, dass er es nach oben schaffen kann. In diesen beiden Qualifikationsspielen werden wir diese drei Spieler brauchen, das hat Vorrang. Es macht wenig Sinn, die Spieler hin- und herzuschieben.

Wann rechnen Sie mit Ilkay Gündogan?

Das wird noch eine Weile dauern, ihm muss man Zeit geben. Wenn er im nächsten Jahr zu uns kommen kann, bin ich hoch erfreut. Man sieht es ja auch jetzt an Holger Badstuber, dass man nicht erwarten kann, dass es nach so langen Verletzungspausen immer nur nach oben geht. Ich hätte Badstuber im September gegen Argentinien und Schottland gern dabeigehabt. Aber in den Gesprächen mit den Bayern wurde deutlich, dass er nach der Vorbereitung und diesem ganzen Kraftakt muskulär schon am Limit war. Leider gab es nun die Verletzung. Es gibt in solchen Situationen immer Rückschläge und Schwächeperioden. Auch Gündogan wird nicht innerhalb von kurzer Zeit in eine Topform kommen können.

Karim Bellarabi hatte einen starken Saisonstart, Marokko bemüht sich um ihn. Sie dagegen?

Bellarabi ist auf unserem Radar, und das schon seit längerer Zeit. ER hat bei uns ja auch schon in den U-Mannschaften gespielt. Auf den Außenpositionen haben wir viel Qualität, ich glaube aber dennoch, dass er das Potenzial hat und es auf unser Niveau schaffen kann. Er kann ein interessanter Spieler für uns werden. Versprechungen werden wir aber nicht machen, das wäre unseriös. Die Entscheidung, für welches Land er spielen möchte, liegt bei ihm. Wer für Deutschland spielt, muss das auch von ganzem Herzen wollen.

Sie wurden hier in St Petersburg auch gefragt, ob man Russland angesichts der Ukraine-Krise die WM entziehen sollte. Was entgegnen Sie?

Das ist eine politische Frage und Angelegenheit der FIFA, da entscheiden andere. Dass wir alle diese sensible Situation vor Ort beobachten, ist doch klar. Man darf aber den Sport auch nicht überstrapazieren und instrumentalisieren, er kann nicht lösen, was Politik und Diplomatie nicht schaffen.

Zu Ihnen: Wurden Sie als Weltmeister-Trainer von den Kollegen anders wahrgenommen als früher?

Die Aufmerksamkeit, die mir hier in St Petersburg zuteil wurde, war schon enorm. Es wird gratuliert von allen Seiten, wir wurden mit Lob überhäuft, und viele sagen, dass wir verdienter Weltmeister sind, weil wir uns über viele Jahre entwickelt haben. Was mir vor allem angenehm auffiel: Viele unserer Nachbarländer, mit denen wir eine sportliche Rivalität pflegen, haben sich mit uns gefreut.

Empfinden Sie auch persönliche Genugtuung, es nach zehn Jahren beim DFB geschafft haben?

Genugtuung ist das falsche Wort. Aber natürlich ist es für mich nach dem langen Weg, auch nach unschönen Momenten und mitunter viel Kritik eine Befriedigung und Freude, dass wir jetzt diesen letzten Schritt gemacht haben und zu Champions geworden sind. Wobei das für mich Entscheidende ist, um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Du musst ein gutes und charakterlich ausgewogenes Team haben. Das ist die wichtigste Erkenntnis aus diesem Turnier.

Woran machen Sie das fest?

Per Mertesacker ist das beste Bespiel. Er war zehn Jahre die Zuverlässigkeit in Person, und dennoch hatte ich vor dem Viertelfinale gegen Frankreich meine Gründe, ihn nicht aufzustellen. Als ich mit ihm darüber sprach, entgegnete er; Trainer, Sie müssen mir das nicht erklären. Ich weiß, was ich zu tun habe für die Mannschaft. Wenn Sie mich brauchen, bin ich da. Das war Große, und das sagt über unsere Mannschaft vieles aus. Heute gehört es zu einer Kernaufgabe eines Trainers, dass man die Spieler mit der richtigen Toleranz, mit der richtigen Einstellung und Disziplin auswählt. Schwarze Schafe verträgt eine Mannschaft nicht mehr.

Die Spieler haben nahezu einhellig gesagt, ihr Leben haben sich durch den WM-Titel verändert. Ihres auch?

Vielleicht ist es noch ein bisschen früh, das zu sagen. Natürlich war in den Wochen nach der WM sehr viel Trubel, und an der Post habe ich schon gemerkt, was passiert ist. Ich habe unendlich viele Einladungen zu Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, die kann ich unmöglich alle wahrnehmen. Aber ob das einschneidende Veränderungen in meinem normalen Leben gibt? Das kann ich noch nicht abschätzen.

Interview: Oliver Hartmann

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